06:30
Ich wache auf und taumle schlaftrunken in die Küche.
Kaffeeduft macht sich breit.
Meine Frau hat ihn gekocht. Sie ist früher wach als ich.
Ich nehme eine Tasse aus dem Schrank, gieße Kaffee ein, Milch dazu und stelle mich an die offene Terrassentür.
Die grüne, leicht hügelige Landschaft hypnotisiert mich und leuchtet in der Morgensonne.
Im Westen leuchtet Licht in den Fenstern eines Bauernhauses.
Ediz und Fina sind also auch schon wach.
Im Osten hingegen ist noch keine menschliche Regung zu vernehmen.
Agata schläft also noch.
Seit mehr als 10 Jahren sind wir Nachbarn.
Unterstützen und helfen uns. Wo und wie wir können.
Ediz und seine Frau stammen aus der Türkei.
Er verkaufte Autos und sie Bücher.
Auf der Insel betreiben sie eine kleine Fischzucht.
Seit Jahren können sie ihren Bestand vergrößern.
Auf langwierige, herkömmliche Art.
Agata war in Griechenland Kindererzieherin und verdient ihren Unterhalt auch auf der Insel mit dem Betreuen der Kleinsten. Ihr Mann ist auf dem Festland geblieben. Das Modell der Fernbeziehung habe ich nie verstanden, sie praktizieren es allerdings seit Jahren erfolgreich.
Wir sind Nachbarn. Und für uns da.
Die nächsten Gehöfte befinden sich einige Kilometer weiter landeinwärts.
Vorbei am nächsten größeren Ort fährt man einige Kilometer um sie zu erreichen.
Weit entfernt. Aber nah genug.
Ich schlürfe meinen Kaffee und lasse meinen Blick schweifen.
Grün. Ein paar kleinere weiße Pünktchen am Horizont.
Meine Frau war also schon da.
Sie ist immer schneller als ich.
Schon früher, bevor wir am Siedlungsprogramm der dänischen Regierung teilgenommen haben.
Seit die Schneemassen zurückgegangen sind, wurden auf Grönland große Flächen zu Weideland umgewandelt.
Tiere, die hier schon heimisch waren, wurden vermehrt und werden nun als Weidetiere gehalten. Keine invasiven Arten. Keine Migration von fremden Viechern. GrönlandWolle. GrönlandWolle. GrönlandWolle.
Ich schlurfe ins Bad, rasiere mich, putze meine Zähne und ziehe mich an.
Auf dem E-Trike fahre ich den Tierchen entgegen.
Hamlet und Ultron stehen im Stall und begutachten ihre Mädchen.
Seit wir hier arbeiten sind es viele Generationen mehr geworden.
Das Futter für die Tiere beziehen wir von hiesigen Bauern, die ihre Felder nach althergebrachter Tradition bestellen. Ernteausfälle gab es seither nicht.
Unsere Speicher sind gut gefüllt und sollten für eine Saison ausreichend Nahrung bieten. Der hiesige Tierarzt sorgt für das gesundheitliche Wohl der Tiere.
Meine Frau winkt mich zu sich.
Der nun folgende Ausblick fasziniert mich seit wir hier angekommen sind.
Vom Stall aus blicken wir auf das Weideland.
Am Horizont steht unser Haus, traditionell aus Holz, teilweise auch aus Steinen gebaut. Die Sonne wirft einen Schatten hinter das Gebäude. Die Anbauten schimmern im Sonnenlicht.
Umrandet wird alles von einem Zaun-Mauersystem.
Vereinzelt stehen Bäume, um den Tieren Schutz vor dem Wetter zu geben.
Hinter unserem Haus schweift der Blick über den Fjord hinaus aufs Meer.
Der Wind frischt auf.
Die Tiere sind es gewohnt und mir gibt es das Gefühl lebendig zu sein.
Salzige, frische Luft weht mir ins Gesicht.
Ich schließe die Augen und fühle mich wohl.
Ich umarme meine Frau und küsse sie sanft.
Unsere Kinder sind auf dem europäischen Festland geblieben.
Sie wohnen weiterhin in Deutschland und arbeiten an ihren Familien.
Besuche sind selten. Und wenn, dann dauern sie einige Woche.
Runterkommen und Stressabbauen nennen sie es, wenn sie uns besuchen.
Die Entscheidung fiel nicht leicht.
Was haben wir zurückgelassen? Erinnerungen. Die Heimat.
Was haben wir gewonnen? Freiheit. Ruhe. Leben.
Es mag verwunderlich klingen. Loslassen und verschwinden wirken wie eine Kur. Entgiftung.
Stell Dir vor, die Last fällt ab, der Stress verschwindet, das Knirschen hört auf, die Lebenslust kehrt zurück.
Klingt undankbar. Ist es aber nicht.
In zwei Monaten wird geschoren.
Die Schafe sind dann voll.
Die Wolle muß runter.
Anfänglich war es eine langwierige Prozedur.
Mit dem Schergerät vorsichtig die Wolle schneiden.
Mittlerweile reine Gewohnheit.
Wie von Zauberhand entstehen dann aus den Wollfäden der Schafe die verschiedensten Kleidungsstücke.
Alle stricken mit. Männer und Frauen aus dem Ort. Als Hobby. In der Freizeit.
Zuerst war ich gesegnet mit zwei linken Strickhänden.
Mit der Zeit wurde ich routinierter.
Nun braucht ein Pullover im Grönlandstil nicht ganz 4 Tage.
In der Heimat kümmert sich einer der Söhne um den Vertrieb der Produkte. Lediglich die Bilder schicken wir ihm online zu. Den Rest erledigt er.
Natürlich gegen Provision.
Grönlandpullis aus Grönlandwolle.
Socken aus Grönlandwolle.
Schals aus Grönlandwolle.
Handschuhe aus Grönlandwolle.
Frieren möchte niemand.
Unseren Lebensunterhalt bestreiten wir aus dem Verkauf der Wollsachen.
Davon kann man gut leben.
Der Rest der Wolle wird exportiert.
Dinge des täglichen Bedarfs kaufen wir im nächsten Ort.
Keine 30 Minuten entfernt. Geheizt wird mit Solar und Geothermie.
Strom? Auch kein Problem. Pumpwasserspeicherwerke und Stauseen sind dafür verantwortlich. Riesige Seen sind bei der Schmelze entstanden.
Süßwasserfische werden gezüchtet.
Wir fahren zurück zum Haus. Ich setze Kaffee auf. Kurz wird geduscht.
Wir sitzen auf der Terrasse und schlürfen das schwarze Getränk.
Blicken über das Wasser. Diskutieren Ideen. Ideen aus Wolle.
Unser Heim ist groß. Groß genug.
Wir haben das Leben zurück.
Heimweh? Manchmal.
Sehnsucht? Wurde erfüllt.
Regelmäßige Feiern im Ort sorgen für Abwechslung und soziales Leben.
Freunde sind da. Hier wie dort. Besuche sind regelmäßig.
Urlaub machen wir auch. Die Welt steht uns offen. In allen Richtungen.
Plan B. Hätte Plan A sein können. Durfte aber nicht sein. Sicherheit geht vor.
Und erstmal was erreichen. Aber was genau?
Die Sehnsucht hat gesiegt. Und belohnt uns. Täglich.
Die Subventionen laufen bald aus.
Wir sind vorbereitet.
Naturfasern sind willkommen.
Überall auf der Welt.
Der Tag wird alt. Wir ziehen uns ins warme Heim zurück.
Kuscheln uns in Decken.
Lesen. Dösen. Spielen. Schauen fern.
Regelmäßig treffen Freunde ein und wir kochen. Essen. Trinken.
Neugierig beobachte ich das Meer aus meinem Sessel heraus.
Das Schwarz wird aufgewühlt von weißen Geistern.
Ich höre Musik. Entspannung stellt sich ein.
Ich schließe die Augen.
Meine Gedanken schweifen ab.
Zu meinen Kindern.
Das Vermissen ist groß.
Die Bande halten.
Ich nehme die Kopfhörer ab.
Komme ins hier und jetzt zurück.
Ich öffne nochmal die Terrassentür.
Bis hier kann ich die Brandung hören.
Das Wasser riechen.
Die salzige Luft schmecken.
Ich lächle. Und eine gewisse Wärme durchströmt meinen Körper.
Wir gehen irgendwann ins Bett.
Der nächste Tag wartet schon.
Die Arbeit auch.
Nochmal zurück? Kein Plan. Noch nicht mal Z.