Ich sehe was, was du nicht siehst…

Wir sind mit dem Auto auf dem Weg. Zu einem Spielplatz. Bereit für ein Picknick sind wir auch. Und ausnahmsweise haben wir mal alles dabei. Die Stimmung ist gut.

Die Sonne lacht.

Eine schöne Zeit.

Die letzten Wochen strengten an.
Enorm.
Mehr als üblich.
Man hat das Gefühl, an seine persönlichen Kraftreserven zu gehen.
Der Zeiger dreht in den roten Bereich.
Nerven werden dünner.
Ohrenrauschen lauter.
Aber warum eigentlich?
Leute reden von Machtspielchen.
Vom Muttersöhnchen.
Von Trotzphasen.
Von fehlender Erziehung.
An all das glaube ich nicht.

3 Jahre ist er alt, demnächst wird er vier.
Da reflektiert ein Mensch sein Handeln noch nicht. Reflexion ist eine Fähigkeit, die er noch erlernen muss.

Muttersöhnchen sein ist schön. Wer bitte lässt seine Mutter in diesem Alter gerne alleine? Oder wird von seiner Mutter gerne alleine gelassen?

„Trotz“phasen setzen voraus, dass man sich in andere Menschen hineinversetzen und seine Gefühle regulieren kann.
Kann er nicht.
Vom Wunsch zur Wunscherfüllung braucht es Einfühlungsvermögen. Das fehlt ihm noch.
Er reibt sich. Weil er es kann. Weil er es darf.
Weil er es muss. Weil er wächst.

Liebt man sein Kind, erzieht man es automatisch. Da kann nichts fehlen, wird nichts fehlen.
Schätzt man es, schützt man es.
Fördert man es, fordert man es. Unbewusst.
Es lernt durch nachahmen.
Tun wir etwas, wird er es auch tun.
Grenzen zeigen. Da ist wichtig. Ihn in seinen Wutausbrüchen begleiten, die er noch nicht steuern und durch bestimmtes Handeln verarbeiten kann.

Das widerum zehrt. An allem.
Aber man lernt. Auch als Elter.

Und dann ist da noch Corona. Dieser Virus.
Lockdowns, angeordnete Absonderungen, Einschränkung der sozialen Kontakte. Für uns Erwachsene schon anstrengend. Doch wir können telefonieren, chatten und Kontakte mit Freunden und Familie halten. Er kann es nicht. Kontakt zur Familie war das einzige, was für ihn erhalten blieb. Sein soziales Milieu war plötzlich weg. Für Monate. Und jeden Tag nur von alten und manchmal noch älteren umgeben zu sein, ersetzt kein Kind.

Nun hat er Schwierigkeiten, die seine Fähigkeiten übersteigen.
Schwellenangst.
Er kooperiert den ganzen Tag. Ist ein offenes und interessiertes Kind.
Doch das Thema Kindergarten strengt ihn an.
Gerne möchte er mit seinen Freunden spielen.
Redet oft von ihnen und von dem, was er spielen möchte und vermisst.
Der Weg zum Kindergarten ist gut. Wir reden, lachen und begrüßen die Kinder und deren Eltern.
Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Tür der KiTa aufgeht.
Da bricht er innerlich und äußerlich zusammen.
Er weint, zetert, windet sich und ist völlig aufgelöst.
Von jetzt auf 100 in einer Sekunde.
Schwellenangst. Der Übergang in sein soziales Milieu fällt ihm nach dieser langen Zwangspause sehr schwer.
Diese „Schwierigkeit“ hatte er aber schon immer.
Er ist ein ruhiges und abwartendes Kerlchen, der seine Zeit braucht aber doch schnell auftaut und Spaß hat.
So wie es auch sein Vater war, als er jung war.
Und es auch heute noch ist.
Doch Hilfe hat er zurzeit keine zu erwarten.
Nicht von den Pädagogen und nicht von den Leitenden.

Wir Eltern aber machen weiter.
Kümmern uns.
Fördern ihn und sein Fähigkeiten.
Sind für ihn da.
Machen ihm Mut.
Auch in unserem Corona-Alltag.
Ist es leicht? Nein.
Ist es schwer? Ja.
Corona f**** uns ab.
Aber mir sind Eltern. Lieben unsere Kinder und sind da, wenn es nötig ist und sowieso immer.
Zu Zeiten der Pandemie wesentlich mehr als sonst.

Das schweißt zusammen.
Zieht auseinander.
Stärkt.
Nervt.
Zerrt nach links.
Zerrt nach rechts.
Fördert den einen.
Fordert alle anderen.

Wir wachsen an der ganzen Problematik.
Erkennen, wie wichtig soziale Kontakte für Kinder sind. Und für uns.
Erkennen, welchen Stellenwert das Milieu der Kleinen in ihrem frühen Leben schon einnimmt.
Und erkennen auch, was passieren kann, wenn dieses wegfällt. Plötzlich. Angeordnet.

Wir sitzen im Auto und fahren wieder nach Hause. Die Stimmung ist immer noch gut.
„Mir ist langweilig.“ tönt es aus dem Fond.
„Spielen wir ein Spiel.“, sage ich.
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist bunt.“, entfährt es ihm.
„Ich sehe hier nichts buntes.“, antworte ich.
„Was ist es denn?“
„Die ganze Welt, Papa.“, antwortet er.

Und ich bin stolz.

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